Ly ist Kommissar bei der Polizei in Hanoi. Mitte Vierzig, Einzelgänger und Vespa-Fahrer. Derzeit beschäftigt ihn ein Fall von illegalem Handel mit Wildtieren mehr als er zugeben will. Um abzuschalten, fährt er zu Minh ins Bia Hoi.
Die Nacht kommt mit einem Schlag. Ohne Vorwarnung. Es ist nicht mehr heiß, aber angenehm warm. Lichter glitzern durch das Dunkel. Auf den Gehwegen stehen endlose Reihen aus niedrigen Stühlen und Tischen. Der Boden ist übersät mit abgenagten Knochen. Die Gäste reden, schlürfen und schmatzen. Das Bier ist frisch gezapft. Der Schaum läuft außen an den Gläsern herunter. Kommissar Ly trinkt sein erstes Bier in einem Zug aus und lehnt seinen Rücken gegen den Stamm des alten Mandelbaums.
„Bring uns Entenfleisch, schön knusprig”, brüllt ein Mann am Nebentisch. Sein Gesicht hat vom Alkohol eine violette Färbung angenommen. Die Kontrolle über seine Stimme hat er längst verloren. “Und Wasserschnecken mit Schweinefleisch und Kochbananen. Gibt’s noch Tintenfisch? Ja, frittier’ ihn, mit Chili. Und Seidenraupen. Ach nein, kein Armenfutter. Bring lieber Taschenkrebse. Und Shrimps, ja, von den großen, und vergiss’ Salz und Limette nicht.”
Ly trinkt ein zweites Bier und beobachtet die fliegenden Händlerinnen, die mit ihren Körben am Schulterjoch vorbei laufen. Mit dem typischen federnden Gang von Menschen, die schwere Lasten gewohnt sind. Die Knie gebeugt und etwas hastend, so, als ob sie dem Gewicht der Körbe immer einen Schritt voraus sein wollen.
Wie immer, wenn Ly abschalten will, kommt er hierher – in Minhs bia hoi. Minh ist Lys ältester und engster Freund. Er hat viele Jahre in der Verwaltung eines staatlichen Produktionsbetriebes gearbeitet. Als aber mit Doi Moi wieder Privatinitiative zugelassen wurde, hat er sich sofort selbstständig gemacht und im Erdgeschoss seines Wohnhauses ein bia hoi eröffnet, eines der typischen Straßenlokale mit Bier lokaler Brauereien und Gerichten der Saison.
Es liegt mitten in der Altstadt mit ihren engen, verwinkelten Gässchen, dunklen Gängen und versteckten Höfen. Die Fassaden sind vom Wetter zerfressen, die Häuser niedrig und mit roten Ziegeln gedeckt. Die Stromleitungen hängen in dicken Bündeln kreuz und quer. Vögel schnattern in ihren Rattankäfigen. Es riecht nach Fischsoße, getrockneten Steinpilzen und Shrimps, nach Grillfleisch, Diesel, Mango und Tigerbalsam.
Zwischen den Tischen spielen Kinder kreischend Fangen. Jugendliche flitzen mit ihren Motorrollern durch die Gasse, verliebt und eng umschlungen. Die Ständer ausgeklappt, so dass sie in den Kurven Funken sprühen. Familienväter sind unterwegs, Geschäftsleute, Machos mit Drachentätowierungen und Greisinnen, denen der rote Betelsaft in den Mundwinkeln steht. Rosa gepuderte Mädchen stöckeln auf Pfennigabsätzen umher. In den Ästen über Ly funkeln Leuchtketten. Aus den Innenräumen schimmert das grünliche Licht von Neonröhren. Hausbesitzer haben die Türen aufgezogen. Jedes Haus ist ein Laden und die ganze Straße ein einziges großes Geschäft.
Ly schließt für einen Moment die Augen und lässt seine Gedanken treiben. Die Gespräche um ihn herum dringen nur noch als Stimmengewirr zu ihm durch. Langsam entspannt er sich.
Mit dem dritten Bier steht sein Essen auf dem Tisch. In einem Topf auf dem Gasstövchen dampft scharf gewürzter Fischfond. Auf einem Tablett liegen hauchdünn geschnittener Tintenfisch, Krabben, Flusskrebse, Austern, Jakobsmuscheln und Pangasiusfilet. Daneben stehen Schüsseln mit Reisnudeln, frischem Tofu, Wasserspinat, Koriander, Minze und Basilikum. Außerdem gibt es eingelegten Knoblauch und in Essig marinierte Gurken. Ly taucht eine Scheibe Tintenfisch in die Brühe, nimmt sie sofort wieder heraus und tunkt sie in den Dipp aus Sojasoße, Pfeffer, Ei und Sesam. Der Tintenfisch ist zart und köstlich.
Minhs bia hoi ist fiktiv. Andere Restaurants, in denen Kommissar Ly gerne isst, gibt es dagegen wirklich. Hier drei Beispiele:
★ Goc da, Ly Quoc Su 52
Das goc da, »Wurzel des Banyan«, ist ein winziger Laden, der um die Wurzel eines mächtigen alten Baumes gebaut ist. Hier kommt Ly gerne für einen Teller frischer banh goi her, frittierte Teigtaschen, gefüllt mit Glasnudeln, Hack, feingeschnittener chinesischer Salami und Pilzen.
★ Bun moc, 57 Hang Luoc
Ly kommt morgens oft hierher, um eine bun moc zu essen. Der Dampf der Brühe legt sich dann auf sein Gesicht, und der Geruch von Zitronenminze steigt ihm in die Nase. Er träufelt immer etwas Chili und Limonensaft über die Nudeln. Die Schweinefleischbrühe ist würzig und schmeckt leicht nach Zimt und Nelken. Stück für Stück fischt er die Einlage aus der Brühe. Shiitakepilze, Mu-Err-Pilze, Bambussprossen, Schweinefleischklößchen und kleine Stückchen Fleischwurst.
★ Bun bo nam bo, Hang Dieu 67
Die Reisnudeln mit dünnem Rindfleisch, Erdnüssen, Salat und einer süßen und gleichzeitig leicht scharfen Soße sind das Lieblingsgericht von Lys Tochter Huong. Der Laden, der sich über zwei Etagen erstreckt, ist zu fast jeder Tageszeit voll. Am liebsten sitzt Ly ganz vorne – mit Blick in den großen Wok, in dem über einem Feuer das Rindfleisch brät und es so gut nach heißem Öl, gerösteten Zwiebeln und karamellisiertem Palmzucker riecht.
© Fotos: André Lützen
© Text: Nora Luttmer